Bei aller Interaktivität dürfen wir nicht vergessen: Das Internet ist in der Hauptsache noch immer ein Lesemedium – ein unfassbar anspruchsvolles Lesemedium, nicht selten sogar ein Medium, das zwar gelesen werden will, aber gleichzeitig alles dagegen tut, in Ruhe gelesen zu werden. Und auch wenn es sich bei beiden Medien um Buchstaben vor einem Hintergrund handelt, könnten Print-Texte und Online-Artikel in Sachen Leseerfahrung unterschiedlicher nicht sein.
Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Sie vor der Lektüre einer Zeitung einmal für alles zahlen und dann nie wieder zur Kasse gebeten werden. Weder ihre Kreditkartendaten, noch ihre Aufmerksamkeit, noch ihre Verhaltensdaten werden bei der Lektüre eines analogen Print-Produkts abgefragt. Online sieht es anders aus: Es kostet Sie anfangs nichts – vorausgesetzt, der Artikel befindet sich nicht hinter einer Bezahlschranke –, dafür werden sie während der Lektüre meistens unterbewusst mit ihrer Aufmerksamkeit zahlen. Strategen aus dem Bereich der Online-Werbung finden regelmäßig neue Wege, Ihren Lesefluss zu unterbrechen. Während ein klassischer Print-Autor davon ausgehen darf, dass sein Adressat seinen Fokus voll und ganz auf das Papier gerichtet hat, das den Text transportiert, weiß der Autor digitaler Schriften, dass die Aufmerksamkeit seines Lesers von allen Seiten mit Interaktionsimpulsen bombardiert wird: Schau mich an, klick mich an, denk über mich nach. Das fordert Opfer in der Informationstiefe, aber nichts ist für einen Verfasser schmerzlicher als ein Text, der nicht zu Ende gelesen wurde.
Das Veröffentlichen in digitalen Medien hat die Dramaturgie der Texte komplett verändert. Grundsätzlich gilt: Früher war mehr Zeit für Text. Wenn ich mir Prosa aus dem 18. Jahrhundert durchlese, habe ich den Eindruck, dass die Autoren für ein Publikum geschrieben haben, dass nach der Hälfte des Tages nicht wusste, wohin mit der Restzeit. Ein Szenario, das uns heute undenkbar erscheint. Marcel Proust konnte in seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (erschienen zwischen 1913 und 1927) seitenlang über einen Keks und die damit verbundene Erinnerung an vergangene Zeiten schreiben, meine Lektorin würde heute beim gleichen Text anmerken: Geht kürzer, wenig Substanz, bitte verdichten. Soviel zur Oberfläche. Begleiten Sie mich nun in die Tiefe der abenteuerlichen Erfahrungen des vernetzten Lesers. (Quelle: www.bpb.de)
Verfasserangabe:
Schlecky Silberstein
Jahr:
2019
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Beschreibung:
H. 12, S. 41-46
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